Positionspapier der Jusos Nordost zur Eurokrise

Veröffentlicht am 01.06.2012 in Wirtschaft

Aufgrund des vielfach geäußerten Interesses an unserem „Positionspapier zur Eurokrise“, welches wir zur Kreisdelegiertenversammlung (KDV) am 5. Mai 2012 eingereicht hatten, dokumentieren wir hier noch einmal den Wortlaut des Antrags:

Positionspapier zur Eurofrage – Deutschland als Teil des Problems begreifen   Europa befindet sich in einer substanziellen Krise. Beinahe im Wochentakt werden Pakete geschnürt und Reformen der makroökonomischen Governance-Architektur des Euroraums verkündet, um ein Auseinanderfallen der gemeinsamen Währung zu verhindern. Doch diese Neujustierungen markieren keinen qualitativen Bruch mit dem für die Krise des Währungsraums mitverantwortlichen makroökonomischen Euro-Regimes der Vorkrisenzeit. Vielmehr wurde es – maßgeblich auf Betreiben Deutscher AkteurInnen hin – reproduziert und verschärft. 1. Keine Revision des Maastricht-Vertrags, nirgends! Um der Krise Einhalt zu gebieten, setzten Europas Staats- und RegierungschefInnen in den vergangenen Monaten an verschiedenen Punkten an, verfehlten jedoch die neuralgischen. Weder Europäisches Semester, noch „Sixpack“, die Universalisierung der deutschen Schuldenbremse, Euro-Plus-Pakt oder die Einrichtung eines dauerhaften Europäischen Stabilisierungsmechanismus sind in der Lage, die asymmetrische Konstruktion der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu überwinden. Die Beschlüsse reproduzieren das 1992 geschaffene Maastricht-Regime, das eine Zentralisierung der Geldpolitik bei der Europäischen Zentralbank festschreibt, ohne ihr die für eine makroökonomische Koordinierung notwendige politische Union zur Seite zu stellen. Damals setzten sich deutsche Vorstellungen von einer unabhängigen, ausschließlich auf Inflationsbekämpfung fixierten und wirtschaftspolitisch nicht flankierten Zentralbank durch. Französische Gouvernement-Économique-Konzeptionen hatten das Nachsehen. Allenfalls unverbindliche, der „Offenen Methode der Koordinierung“ folgende Richtlinien – zumeist neoliberalen Charakters – wurden der Geldpolitik zur Seite gestellt. Stattdessen ergänzte der Stabilitäts- und Wachstumspakt 1997 die Maastricht-Bestimmungen. Er schrieb die Maximalschuldengrenze bei 60% und eine Defizitgrenze von 3% des Bruttoinlandsprodukts fest. Die alleinige Fixierung auf öffentliche Verschuldung ließ Privatschulden und Leistungsbilanzen jedoch völlig außer Acht. Staaten mit geringen Staatsschulen – etwa Spanien und Irland – gerieten infolge der durch die Krise notwendig gewordenen Stabilisierungsmaßnahmen und der explodierenden Zinssätze für Staatsanleihen dennoch in Zahlungsprobleme. Ob die GIIPS-Staaten tatsächlich unter einer zu hohen Schuldenlast ächzen, ist nach wie vor unklar. Bislang hat es die Finanzwissenschaft nicht vermocht, eine belastbare Grenze für öffentliche Verschuldung festzustellen. Staaten wie Japan etwa zahlen auf Staatsanleihen trotz höherer Staatsverschuldung deutlich geringere Zinsen als Griechenland, Italien, Spanien, Portugal oder Irland. Das Maastricht-Regime – unterinstitutionalisiert und der neoklassischen Theorie folgend – hat versagt. Die Wachstumsraten und Beschäftigungszahlen nahmen sich in den vergangenen Jahren äußerst bescheiden aus, Leistungsbilanzen der Mitgliedstaaten liefen auseinander, eine wirtschaftspolitische Koordinierung fand nicht statt, das System europäischer Wettbewerbsstaaten führte zu einem Race to the bottom der Staatsausgaben und Sozialleistungen. Dennoch schreiben die aktuellen Reformbemühungen die Maastricht-Logik fort; ein Bruch ist längst nicht in Sicht. 2. Thatchers langer Schatten: Deutschland – Europas malevolenter Hegemon Als treibende Kraft hinter der Verschärfung der Maastricht-Regeln entpuppt sich die Bundesrepublik. Die Machtbalance hat sich weiterhin zuungunsten der EU und Frankreichs in Richtung Berlin verschoben. Wie bereits 1992 und 1997 wurden deutsche Konzepte europäisiert. Die Verankerung der tendenziell deflationären und zum Sozialabbau einladenden deutschen Schuldenbremse in fast allen Verfassungen der Eurostaaten ist ein weiterer Schritt in Richtung eines deutschen Europas; Margaret Thatchers 22 Jahre alte Befürchtung entpuppt sich als weitsichtige Prognose. Zur üblichen Ablehnung einer europäischen Wirtschaftsregierung und einer grundlegenden Reform der EZB gesellt sich zunehmender Nationalismus. Europaskepsis, D-Mark-Nostalgie und Chauvinismus gegenüber den in Schwierigkeiten geratenen europäischen Staaten greifen hierzulande um sich und gefährden das europäische Integrationsprojekt. Der Narrativ vom fleißigen Deutschen, der jetzt für die faulen Südländer zahlen muss, bricht sich Bahn und knüpft an nationalistische Diskurse aus vergangenen Jahren an. Der objektive Klassenantagonismus weicht einer kollektiv-subjektiven Konstruktion nationaler Gegensätze. Verkannt wird dabei die Rolle, die Deutschland in der gegenwärtigen Krise des Euroraums spielt. Die übermäßige Exportfixierung erlaubte es der Bundesrepublik, sich an vielen Euroländern gesundzustoßen. Stagnierende Lohnstückkosten – bedingt durch sinkende Reallöhne bei gleichzeitiger Produktivitätssteigerung – begünstigten die Entstehung enormer Leistungsbilanzungleichgewichte im Euroraum. Deren eruptive Korrektur erleben wir derzeit. Deutschland ist also keineswegs der gesunde Musterknabe, der seinen verkrusteten Arbeitsmarkt auf Vordermann gebracht und kluge Lohnzurückhaltung geübt hat, sondern Teil des Problems. 3. Was jetzt zu tun wäre Um die strukturellen Defizite des Euroraums zu überwinden, ist eine Revision des Maastricht-Vertrags notwendig. Folgende Schritte können zur Errichtung eines Post-Maastricht-Regimes beitragen:
  • Aufbau einer politischen Union, die der Währungsunion zur Seite steht; Ausbau der Sozialunion; Errichtung eines europäischen Länderfinanzausgleichs, Ausbau der regionalen Strukturfonds, deutliche Aufstockung des vom Europäischen Parlament kontrollierten EU-Budgets; Erhebung einer EU-Abgabe
  • Abschaffung des Stabilitäts- und Wachstumspakts; Inblicknahme privater Verschuldung statt ausschließlicher Fixierung auf Staatshaushalte; symmetrische Korrektur der Handelsbilanzdefizite. Hierzu müssen Löhne in Deutschland über einen längeren Zeitraum stärker als in den Defizitländern steigen.
  • Verhinderung einer europaweiten Verankerung der deutschen Schuldenbremse
  • Reform der Europäischen Zentralbank: Abkehr von der Fixierung auf Inflationsvermeidung; Einbeziehung anderer Zielgrößen wie zum Beispiel Beschäftigung bei der Bestimmung der EZB-Zinspolitik; demokratische Kontrolle der EZB;
  • Aufbau einer unabhängigen und supranationalen Rating-Agentur zur Prüfung staatlicher Bonität. Außerdem setzen wir uns dafür ein, konkrete Mechanismen zu entwickeln, um die Portfolios staatlich geförderter Fonds von Entscheidungen der Ratingagenturen abzukoppeln
Kurzfristig gilt es, den Euroraum zu stabilisieren. Hierzu sollten folgende Maßnahmen ergriffen werden:
  • Die EZB muss versichern, dass sie in jedem Fall Staatsanleihen der in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Staaten aufkauft (Funktion als „Lender of last resort“), um die Zinsen, die Regierungen auf Staatsanleihen zahlen, niedrig zu halten.
  • Ausgabe gemeinsamer europäischer Anleihen (Eurobonds)
  • Einführung einer Finanztransaktionssteuer; Steuererhöhungen für Wohlhabende, um öffentliche Haushalte über die Einnahmeseite zu konsolidieren
  • Gewährung nicht-konditionalisierter Transferzahlungen an in Zahlungsschwierigkeiten geratene Staaten (über den ESM)
  • Krisenstaaten Investitionsmittel bereitstellen (Marshall-Plan)
4. Der Schlüssel liegt in Berlin … leider! Vornehmste Aufgabe muss es sein, den Narrativ vom Vorbild Deutschland zu dekonstruieren. Der deutsche neomerkantilistische Sonderweg ist eine Sackgasse und sollte nicht zur Nachahmung für die gesamte Eurozone empfohlen werden. Wir treten entschieden für eine Neujustierung des wirtschaftspolitischen Kurses der Bundesrepublik ein. Innerhalb der – maßgeblich bundesrepublikanische Handschrift tragenden – Maastricht-Logik forcierte die deutsche Exportfixierung die Wettbewerbsschwäche der nun in die Krise geratenen europäischen Mitgliedstaaten. Sicher sind auch dort Anpassungsleistungen notwendig, doch die Hauptlast muss auf deutscher Seite liegen. Offenkundig sind deutsche Verhaltensmuster zur Eurofrage jedoch beständig. Die längst überfällige Revision des Maastricht-Vertrags blieb bislang aus; auch die gegenwärtige krisenhafte Zuspitzung der strukturellen Probleme im Euroraum hat daran nichts geändert. Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas müssen für die Schaffung eines europaweiten Bewusstseins, welches die Fahrlässigkeit deutscher wirtschaftspolitischer Konzeptionen brandmarkt, Sorge tragen. Ein Bruch mit diesen deutschen ökonomischen Paradigmen ist unerlässlich für ein solidarisches Europa. Das Gefühl zunehmender Ohnmacht gegenüber Brüssel und vor allem Berlin heizt Nationalismus in ganz Europa an. Wiedererstarkendem Nationalismus muss mit einer Verlagerung nationalstaatlicher Kompetenzen auf EU-Ebene bei gleichzeitiger Demokratisierung der EU-Institutionen begegnet werden. Mehr Europa, nicht weniger muss die Antwort auf die gegenwärtige krisenhafte Zuspitzung im Euroraum sein.

Antragstext als PDF zum Download. Der Antrag wurde auf der KDV konditionalisiert vertagt mit der Maßgabe, dass der SPD-Kreisverband sich eingehender mit der Thematik beschäftige (über verschiedene Veranstaltungsformen) und anschließend eine eigene Beschlusslage erarbeite. Nachtrag: Die erste Veranstaltung hierzu fand am Mittwoch, dem 6. Juni 2012, statt. Einen kurzen Bericht gibt es hier.