„Opposition ist Pflicht, liebe SPD!“

von Lukas Münninghoff

Minus 13,7 Prozentpunkte Verlust für die Parteien der Großen Koalition. Die Wählerinnen und Wähler haben die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD abgewählt, die SPD muss die Opposition im Bundestag anführen: In dieser Bewertung waren sich Partei- und Fraktionsspitze sowie weite Teile der Basis am Abend der Bundestagswahl am 24. September einig. Diese breite Einigkeit innerhalb der Partei ist in diverse Beschlüsse auf allen SPD-Ebenen gegossen worden. So weit, so gut?

Alleingang mit gravierenden Folgen

Eine niedersächsische Landtagswahl und vier weitere Wochen Sondierungsgespräche zwischen Unionsparteien, FDP und Grünen später lässt der FDP-Vorsitzende Christian Linder die Gespräche im Alleingang platzen. Das scheint auf den ersten Blick verwunderlich (wegen der Begründung, es wäre an Inhalten gescheitert), leuchtet aber auf den zweiten Blick ein (mit einer Werbeagentur kann man nicht regieren).

Wie auch immer ein solches Verhalten zu bewerten sein mag, es hatte eine gravierende Folge. Keine 24 Stunden später begannen prominente Spitzengenossinnen und -genossen die Neuauflage einer Großen Koalition ins Gespräch zu bringen. Die Lage müsse nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche neu bewertet werden: Eine Koalition mit den Unionsparteien dürfe nicht mehr kategorisch ausgeschlossen werden. Man dürfe sich Gesprächen nicht verschließen. Und die SPD müsse ihrer staatspolitischen Verantwortung in der Regierung nachkommen. Ansonsten drohten politische Instabilität, Neuwahlen oder gar Deutschlands Untergang. Mindestens!

Seit der Wahl hat sich nichts geändert

Jetzt schaltete sich pflichtgemäß der Bundespräsident ein. Er mahnte zur Ruhe und machte – zu Recht – klar, dass Neuwahlen nur die allerletzte Möglichkeit sein können. Deshalb müssten alle Parteien miteinander sprechen und eine Lösung finden. Die Frage ist nur: Welche beziehungsweise wessen Lösung?

Es dauerte nicht lange, da wurde öffentlich nur mehr über das Wie und Wann einer neuerlichen Großen Koalition diskutiert. Es dürfe nicht zu schnell gehen, das würde die SPD-Basis überfordern. Die SPD müsse diese und jene Inhalte durchsetzen. Das Ob und Warum scheinen seit dem öffentlich kaum noch eine Rolle zu spielen. Dazu trägt auch ein mediales Pro-GroKo-Trommelfeuer bei. Und so beugen sich innerhalb kürzester Zeit führende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, natürlich mit öffentlich zur Schau getragenem Unbehagen, dem schier Unausweichlichem: Ämter und Funktionen in einer neuen Großen Koalition.

Aber was hat sich seit der Bundestagswahl entscheidend geändert? Die Antwort ist einfach: Nichts! Das Mitte-Rechts-Bündnis aus Unionsparteien, FDP und Grünen kam nicht zu Stande. An der Analyse der politischen Situation nach der Bundestagswahl hat sich dadurch nichts geändert. Die SPD muss heute aus den gleichen Gründen ihrer staatspolitischen Verantwortung als Oppositionsführerin nachkommen, wie vor dem Scheitern der Sondierungsgespräche.

Erstens: Nicht dem Wählerwillen widersetzen

Die bisherige Koalition aus CDU, CSU und SPD wurde abgewählt. Bei einer Bundestagswahl, die im Gegensatz zu einer SPD-Mitgliederbefragung auch eine rechtlich bindende Wirkung hat. Alle drei Koalitionsparteien haben immense Verluste erlitten. Zusammen haben sie fast 13,7 Prozentpunkte an Zustimmung eingebüßt.

Die starken Ergebnisse von AfD und FDP sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache der Unzufriedenheit über die Große Koalition. Es wäre unserer Demokratie unwürdig, würden sich SPD und Unionsparteien jetzt über den so offensichtlichen Willen der Wählerinnen und Wähler hinwegsetzen.

Zweitens: Eine GroKo stärkt die Ränder

Große Koalitionen machen politische Aushandlungsprozesse und Unterschiede zwischen den Parteien unsichtbar und fördern in der Öffentlichkeit den Eindruck eines politischen Einheitsbreis. Dazu trägt auch die mit Großen Koalitionen einhergehende Schwächung der sowieso stark zersplitterten Opposition bei. Eine schwache Opposition aber kann ihren Hauptfunktionen, Kontrolle der Regierungsarbeit und Angebot vernünftiger politischer Alternativen, nicht nachkommen. Kurz: Große Koalitionen führen zu politischem Frust und sie machen Parteien wie die AfD oder die FPÖ stark.

Wohin das heute führen kann, sehen wir ganz deutlich in Österreich. Dort gibt es seit Jahrzehnten solche Koalitionen. Seit diesem Sommer sind Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten an der Macht, die FPÖ erreichte bei den Nationalratswahlen beinahe 27 Prozent. Man muss nicht gleich an das Scheitern der Weimarer Republik erinnern um deutlich zu machen: Das ist gefährlich.

Drittens: Mit der Groko gibt es keine Stabilität

SPD und Unionsparteien leben als Volksparteien von einer deutlichen politischen Polarisierung, nicht von fast reibungsloser Zusammenarbeit. Alle drei beteiligten Parteien haben bei den letzten Bundestagswahlen nach Großen Koalitionen deutlich an Stimmen verloren: Die CDU hat 7,4 Prozentpunkte eingebüßt, die CSU ist unter die für sie wichtige Marke von 40 Prozent der bayerischen Zweitstimmen gerutscht.

Eine weitere Große Koalition gefährdet mittelfristig genau das, was ihre Befürworter doch eigentlich wollen, nämlich die politische und damit wirtschaftliche Stabilität der Bundesrepublik. Denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass nach der nächsten Bundestagswahl nicht einmal mehr ein Bündnis aus SPD, CDU und CSU im Parlament eine Mehrheit hätte. Die Volksparteien sind aber die Stabilitätsanker im deutschen Parteiensystem und müssen es bleiben.

Viertens: Oppositionsführung nicht den Rechten überlassen

Der Einzug der AfD in den Bundestag mit fast 13 Prozent der Stimmen ist eine historische Zäsur für unsere Demokratie. Die selbsternannte Alternative ist nicht nur eine rechtspopulistische Partei. Sie hat den politischen Diskurs in unserer Gesellschaft bereits stark verändert, indem sie Grenzen bewusst überschreitet.

Die AfD duldet und fördert in ihren Reihen Menschen, die einen neuen Schießbefehl an deutschen Grenzen fordern, gegen Geflüchtete, Homosexuelle und die „Lügenpresse“ hetzen, stolz auf die Taten deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen sein wollen, den Holocaust und das Existenzrecht Israels anzweifeln und zur Jagd aufrufen. Eine solche Partei darf nicht die Opposition im Bundestag anführen und so den politischen und gesellschaftlichen Diskurs noch stärker prägen. Wir sollten uns immer daran erinnern, dass man mit Rechten nicht spielen kann. Das ist im Zweifel tödlich.

Die SPD muss ihr Wort halten

Für unsere liberale Gesellschaft und unsere Demokratie heißt das: Sie wird in dieser Form nur dauerhaft Bestand haben, wenn die SPD zu ihrem Wort steht und die Opposition stark und verantwortungsvoll führt. Es ist jetzt nicht Aufgabe der SPD, Mehrheitsbeschafferin für die Bundeskanzlerin zu sein. Der Auftrag zur Regierungsbildung liegt nach wie vor bei der CDU und ihrer Vorsitzenden. Eine Minderheitsregierung wäre für die CDU-Vorsitzende eine mögliche Lösung. Dass die Kanzlerin lieber eine Große Koalition hätte, weil sie ihre Politik – wie gewohnt – dann nicht erklären braucht, muss die SPD nicht zu kümmern.

Das Modell Minderheitsregierung funktioniert auch in anderen europäischen Staaten gut. Es wäre auch für unsere Gesellschaft eine echte Chance, würde dem Parlament und den einzelnen Abgeordneten deutlich mehr Gewicht verleihen und so unsere Demokratie insgesamt stärken. Denn um Mehrheiten für politische Projekte müsste endlich wieder gerungen und geworben werden. Deshalb gilt: Opposition ist Pflicht, liebe SPD!

Lukas Münninghoff (29) ist stellvertretender Vorsitzender der Jusos Pankow und seit 2012 SPD-Mitglied. Bei der Mitgliederbefragung seiner Partei im Jahr 2013 stimmte er für die Große Koalition.

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